1989 | Dieffenbach-Medaille

1. Dieffenbach-Medaille an Prof. Dr. med. Hans Schadewaldt

Dieffenbach-Vorlesung anlässlich der VDPC-Tagung im September 1989

Dieffenbach und die Plastische Chirurgie
von Hans Schadewaldt, Dieffenbach-Preisträger 1989
(Aus dem Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Direktor: Univ. Prof. Dr. med. Hans Schadewaldt)

Im Jahre 1916 hat der amerikanische Chirurg HENRYTONKS (1862-1939) ein Kunstwerk geschaffen, das er „Die Geburt der plastischen Chirurgie“ benannte. Er war während des Ersten Weltkrieges in seine ärztliche Praxis zurückgekehrt und hatte sich vor allem mit der kosmetischen Restitution von an den Folgen von Verbrennungen leidenden amerikanischen Soldaten beteiligt. Aber seine historischen Kenntnisse waren offensichtlich sehr gering, sonst hätte TONKS wissen müssen, daß man die Geburtsstunde ihrer Wissenschaft in die Zeit um 700 n. Chr. vordatieren müßte, als der byzantinische Kaiser JUSTINIAN II. (670-711), auch als „Rhinotmetos“ = nasenverstümmelt bekannt geworden, eine offensichtlich schon früher in Indien heimische erste plastische Operation auch in Osteuropa erlebt hatte. Die sogenannte „indische Methode“ von häufig als Strafmaßnahme verstümmelten Nasen ist frühestens nach dem ersten Jahrtausend n. Chr. nachzuweisen und wurde im Abendland im übrigen erst viele Jahrhunderte nach der allgemein bekannten, von dem italienischen Arzt Gaspare TAGLIACOZZI (1545-1599) 1597 eingeführten Ersatzmethodik aus einem Oberarmhautlappen um 1792 bekannt. Es war dann ein unbekannter britischer Armeearzt, der in Madras wirkte und 1794 erstmals über die „indische Methode“ publizierte. Eine eigentliche plastische Chirurgie als eigenständige Disziplin der Heilkunde muß indes mit dem Wirken des außergewöhnlichen Berliner Chirurgen JOHANN FRIEDRICH DIEFFENBACH (1792-1847) angesetzt werden, weshalb auch meine Aufgabe heute die Darstellung seines Lebens sein sollte, zumal das Wirken dieser Persönlichkeit auch in Zukunft für Ihre Gesellschaft bedeutungsvoll bleiben dürfte.

Der leider schon mit 55 1/2 Jahren, sozusagen in den Sielen während einer Vorlesung an einer foudroyanten Apoplexie gestorbene DIEFFENBACH war am 1. Februar 1792 in Königsberg geboren worden. Schon wenige Jahre später indes verzogen er und seine Mutter nach dem plötzlichen Tode des Vaters in die mütterliche Heimatstadt Rostock, und dort begann der junge Halbwaise 1810 das Studium der Theologie, das ihn aber keineswegs befriedigte. Er wuchs in der Zeit der Napoleonischen Herrschaft auf, er erlebte 1809 die Besetzung Rostocks durch das Freikorps des Majors VON SCHILL, aber auch ein Wechsel des Studienorts in das damals noch schwedische Greifswald konnte ihn offensichtlich nicht befriedigen. Als sich aber das Kriegsglück gegen NAPOLEON I. (1769-1821) wandte und auch die deutschen Teilstaaten sich mit den Russen verbündeten, trat auch DIEFFENBACH als Freiwilliger in das Jägerkorps ein, bewahrte sich aber inmitten einer emotionsgeladenen und zum Teil chauvinistischen Atmosphäre seine auch später immer wieder hervortretende humanistische Grundhaltung. Ja man kann ihn fast als einen Vorläufer des späteren Rot-Kreuz-Gedankens bezeichnen, wenn er etwa schrieb:

„Ich hasse den Feind, ich verfolge ihn mit blutiger Rache, doch sinkt er flehend in den Staub, dann kenne ich Erbarmen. Fort ist die Rache, ich strecke das Schwert über ihn und schütze ihn mit Gefahr des Lebens vor der blutigen Wut der Kameraden.“

DIEFFENBACH hatte sein Theologiestudium praktisch abgeschlossen, als er sich aus nie ganz geklärten Gründen zum Zweitstudium der Medizin an der Universität in Königsberg entschloß. Die Verhältnisse dort waren recht bescheiden, die Medizinische Klinik umfaßte 18, die Chirurgische gar nur 10 Betten. Immerhin waren zwei vorklinische Professoren für seinen weiteren Lebensweg nicht ohne Bedeutung: der Physiologe KARL FRIEDRICH BURDACH (1776-1847) und der junge CARL ERNST VON BAER (1792-1876), mit dem ihn auch später engere Beziehungen verbanden. Ihre Empfehlungen legten in DIEFFENBACH die Grundlage für das besondere Interesse an plastisch-chirurgischen Maßnahmen. So übte er sich bereits in kleineren, zum Teil am eigenen Körper vorgenommenen Transplantationen, und ihm wurde der Wert anatomischer Kenntnisse gerade für Wiederherstellungsoperationen sehr deutlich.

Aber in Königsberg hatte er auch zwei Hürden zu überspringen. Als junger begeisterter Freikorpskämpfer schloß sich DIEFFENBACH der Deutschen Burschenschaft an, die bald, insbesondere nach den Karlsbader Beschlüssen, öffentlichen Verfolgungen ausgesetzt war, und er verfiel in eine geradezu tragische Liebe zu der Frau eines in Königsberg angesehenen Arztes JOHANNA CHARLOTTE MOTHERBY (1783-1842) die mit ihm auch schon vor ihrer Scheidung turbulente Jahre verlebte. So wollten beide, er war auch ein begeisterter Philhellene, von Marseille aus sich nach Griechenland einschiffen, um dort am Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken teilzunehmen. Aber selbst die Heirat mit der an sich nicht eigentlich häßlichen, aber außerordentlich geistvollen und von den Koryphäen der Zeit sehr geschätzten, stark ex­ trovertierten JOHANNA, die er nach Abschluß
seines Medizinstudiums und Erwerb des Doktorgrades 1824 heiratete, endete 9 Jahre später in einem völligen Fiasko und führte 1831 zur Scheidung. Denn JOHANNA liebte es, in der großen Gesellschaft zu verkehren. ln Berlin eröffnete sie einen Salon, und sie war mit Persönlichkeiten wie ALEXANDER VON HUMBOLDT, der übrigens ein Pate des späteren Dieffenbachschen Sohnes war, MAX VON SCHENKENDORF, ERNST MORITZ ARNDT näher bekannt. Erst die zweite Ehe mit EMILIE WILHELMINE HEYDECKER verschaffte DIEFFENBACH die innerliche Ruhe und das häusliche Glück, das er trotz aller Umtriebigkeit stets ersehnte.

Nach Beendigung seines Studiums trat auch DIEFFENBACH die in jener Zeit übliche akademische Bildungsreise nach Frankreich an. Dort waren die Koryphäen der Chirurgie DUPUYTREN (1777-1835), LARREY (1766-1842), der berühmte Leibarzt NAPOLEONs, und MAGENDIE (1783-1855) als Physiologe tätig, und auch ein Abstecher nach Montpellier führte DIEFFENBACH zu DELPECH (1777-1832), der für seine Tenotomien weltweit bekannt war. Diese Reisen legten also erst den Grundstock seiner späteren neuartigen chirurgischen Operationsverfahren, während an seiner Berliner Universität die Situation in der Chirurgie eher gespannt war. An der eigentlichen Chirurgischen Klinik der Charité war der alternde JOHANN NEPOMUK RUST (1775-1840) tätig, der praktisch nur noch das Lehramt wahrnahm, während die Operationen von einem dirigierenden Arzt durchgeführt wurden, zu dem 1829 DIEFFENBACH ernannt wurde. DIEFFENBACH hatte nach Absolvierung des offensichtlich sehr schwierigen preußischen Staatsexamens – er hatte den klinischen Teil seines Medizinstudiums nämlich im bayerischen Würzburg absolviert – in Berlin eine eigene Praxis eröffnet, in der er bereits erste Operationserfahrungen sammelte, sich aber dort auch mit ganz aktuellen wissenschaftlichen Fragen, insbesondere der Bluttransfusion beschäftigte, wobei er sehr schnell feststellen konnte, daß die Übertragung von Fremdblut für Säugetiere tödlich sein konnte, aber im Anschluß daran auch Infusionsversuche vornahm, die im Jahre 1831, als die Cholera auch in Berlin ihre ersten verheerenden Wirkungen zeitigte, zu einem erst im 20. Jahrhundert erkannten sensationellen Therapievorschlag führten.

Wie ich anläßlich eines Gedenkaufsatzes über die Einführung des Herzkatheterismus durch WERNER FORSSMANN (1904-1979), unseren Düsseldorfer Honorarprofessor, 1969 berichten konnte, hatte DIEFFENBACH bei dieser Choleraepidemie die Vorstellung, durch eine bis in das Herz eingeführte Sonde Kochsalzlösung in den Organismus einzuführen und so der Exsikkation zu begegnen. Dieser erstmalige Versuch ist dann von RUDOLF VIRCHOW (1821-1902) in einer Vorlesung im Wintersemester 1848/49 in Würzburg in einem Kolleg bekanntgegeben worden. ln einer Kollegnachschrift ist zu lesen:

„Dieffenbach hat bei der ersten Choleraepidemie den, wie andere Leute sagen, genialen Gedanken gehabt, durch die Vena jugularis eine Sonde einzuführen und damit das Herz zu kitzeln. Der Erfolg war natürlich ein nichtiger, wie sich Virchow oft bei Versuchen an Menschen überzeugt hat.“

Immerhin wurde dadurch jedoch klargestellt, daß man ungestraft eine Sonde in das Herz einführen konnte. Leider hat DIEFFENBACH diese Beobachtung offensichtlich nur mündlich weitergegeben und nicht publiziert, so daß sie bis zu den Herzkatheterversuchen von FORSSMANN unbeachtet geblieben ist. Andererseits hat er in diesen Cholerazeiten auch Bluttransfusionen vorgenommen, dabei allerdings in der Regel den indirekten Übertragungsweg gewählt. Seine entsprechende Monographie erschien bereits 1828, seine Erfahrungen bei Cholerakranken publizierte er in Französisch 1835 und erhielt dafür zusammen mit seinem Freund GEORG STROMEVER (1843-1876) den hochangesehenen Monthyon­Preis des Institut de France. Aber im Jahre 1829 erschien auch schon der erste Band eines seiner Hauptwerke, der „Chirurgischen Erfahrungen besonders über die Wiederherstellung zerstörter Teile des menschlichen Körpers nach neuen Methoden“. Er stellte fest:

„Die chirurgischen Versuche, welche ich hier mitteile, liefern einen Beitrag zu einem der interessantesten Zweige der ganzen Chirurgie. Die Wiederherstellung und Verbesserung verstümmelter Teile des Körpers, besonders des menschlichen Angesichts, sind von solcher Bedeutsamkeit sowohl für den Verstümmelten selbst als auch für die menschliche Gesellschaft überhaupt, daß auch die geringste Förderung der Kunst in dieser Beziehung der Bekanntmachung wert ist.“

Zwar erwähnte DIEFFENBACH in diesem Buch auch seine Vorgänger, insbesondere den Professor für Chirurgie KARL FERDINAND VON GRAEFE (1787-1840), der 1810 an die neugegründete Berliner Universität berufen worden war, obwohl er damals erst 23 Jahre alt war und schließlich durch Intervention von WILHELM VON HUMBOLDT (1767-1835) ein eigenes chirurgisches Klinikum, das endlich in der Ziegelstrasse 5-6 etabliert wurde, erhielt und dessen Nachfolger DIEFFENBACH 1840 wurde, nicht ohne zum Teil recht diffamierende Einschränkungen, so z.B. zuerst nur als interimistischer Direktor. Vielleicht war daran auch DIEFFENBACHs sehr liberale und freiheitliche Lebensauffassung schuld, die sich in einer kleinen Episode dokumentierte. Als er einmal zu einer dringenden Operation gerufen wurde, fuhr er an einem Sonntagvormittag im Galopp an einer Kirche, in der gerade Gottesdienst abgehalten wurde, vorbei. Dies war in Berlin streng verboten, und ein Polizist versuchte, ihn anzuhalten, aber mit einem Peitschenhieb machte sich DIEFFENBACH den Weg frei, was entsprechende Folgen hatte. Er wurde zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Dem preußischen König schien es unmöglich, einen königlich-preußischen Professor als Gefängnisinsassen zu sehen, und er ließ ihn auffordern, ein Gnadengesuch einzureichen, was DIEFFENBACH kategorisch ablehnte. Er wurde dennoch begnadigt, aber seitdem war das Verhältnis zu seinem Monarchen nicht mehr ungetrübt, und man darf sicher sein, daß er, falls er die 48er Revolution noch erlebt hätte, wie RUFOLF VIRCHOW auf den Barrikaden der bürgerlichen Revolution hätte gefunden werden können.

Für diese Originalität seines Geistes spricht auch, daß er infolge von Bestrebungen einiger Vorgänger, so des Mannheimer Hofarztes FRANZ ANTON MAY (1742-1814), der zur Volksbelehrung sogenannte „Fastenpredigten“ eingeführt hatte, auch eine Krankenwärterschule unabhängig von den religiösen Organisationen ins Leben rufen wollte und dafür auch ein weitbeachtetes Buch der „Anleitung zur Krankenwartung“ 1832 schrieb, in einer Zeit, in der insbesondere durch die Choleraepidemie die Notwendigkeit einer adäquaten Krankenpflege offenkundig wurde. Auch hier wieder zeigte sich DIEFFENBACH als Humanist:

„Einen Kranken gehörig warten und pflegen, in Leiden und Not ihm hilfreich zur Seite stehen, ihn heben, ihn tragen, ihn betten und erquicken, das ist ein edler Beruf, aber ein schweres Geschäft.“

Leider hatte die von ihm ins Leben gerufene Krankenwärterschule nicht den erwünschten Erfolg. Erst RUDOLF VIRCHOWs Aufruf 1869 während der Konferenz der Frauenvereine „Die berufsmäßige Ausbildung zur Krankenpflege auch außerhalb der kirchlichen Organisationen“, führte eine allmähliche Änderung in der Auffassung der Öffentlichkeit herbei.

Die Zeit erlaubt es leider nicht, eingehender auf seine verschiedenen chirurgischen Operationsverfahren einzugehen. Hier sei nur erwähnt, daß er im ersten Band der schon zitierten „Chirurgischen Erfahrungen“ sich vor allem mit neuen Nahtverfahren bei Gesichtswunden mit Hilfe dünner, flexibler, sogenannter „Karlsbader Insektennadeln“ beschäftigte. ln dem ein Jahr später vorgelegten zweiten Band standen im Vordergrund neue Methoden der Rhinoplastik, und im erst 1834 erschienenen dritten Teil konnte DIEFFENBACH schon mit Recht betonen:

„Es mag jetzt wohl nur noch wenige Ärzte geben, welche die wiederersetzende Chirurgie für eine leere Spielerei halten und welche sich besser in verstümmelnden Operationen gefallen. Dagegen wird jetzt jedem jüngeren gebildeten Arzt das ganze Gebiet der organischen Plastik ebenso bekannt sein wie die übrigen Zweige der Chirurgie. Wer bei ihr etwas Ausgezeichnetes leisten will, dem ist besonders das Studium der Physiologie zu empfehlen.“

Er legte dabei nicht nur auf größere, gut anwachsende Hautstücke, sondern auch auf eine entsprechende Nahttechnik und eine strenge antiphlogistische Behandlung Wert, so daß Mißerfolge durch lokale Eiterungen oder gar durch Sepsis zu den Seltenheiten gehörten. Während man außer der erwähnten indischen und italienischen Methode noch lokale Rhinophymoperationen seit Jahrhunderten kannte, hat DIEFFENBACH nunmehr diese Techniken auf eine neue, wissenschaftlich erprobte Basis gestellt. Aber er prägte auch das Wort:

„Eine Chirurgie auf Mechanik gebaut, ist ein Reiter auf einem hölzernen Pferd. Es bleibt auf einer Stelle stehen und würde unveränderlich sein, wenn die Würmer es nicht zernagten. Eine Chirurgie auf Physiologie gegründet, durchfliegt dagegen die Wüsten wie ein arabisches Pferd.“

Inzwischen waren in der Tat die Berliner Charité, wo er als dirigierender Arzt wirkte, und erst recht die Ziegelstrasse zu einem Zentrum der plastischen Chirurgie in Europa geworden. Nicht nur die Rhinoplastiken wurden weltweit beachtet, auch die Gaumennaht, die Wangenbildung, Vorhautneubildungen, plastische Operationen an den Augenlidern und der Hornhaut, an den Harnwegen, bei Verwachsungen, Dammrissen und Mastdarmfisteln, wurden eine Domäne dieser Schule. Besonders beachtet aber wurden die bereits von der französischen Schule durchgeführten, von STROMEVER und DIEFFENBACH aber zu einer Perfektion gebrachten subkutanen Tenotomien, und hier ist insbesondere daran zu erinnern, daß der Klumpfuß, eine der häufigsten Mißbildungen an den unteren Extremitäten, früher im Prinzip nur durch eine Amputation geheilt werden konnte, während auf der Basis der neuen physiologischen und embryologischen Vorstellungen DIEFFENBACH nunmehr mit Hilfe subtiler plastischer Operationen eine funktionelle Wiederherstellung erreichte. Auch die des Pes equino-varus, insbesondere die legendäre Operation, die durch seinen Freund STROMEVER bei dem englischen Arzt WILLIAM JOHN LITTLE (1810-1894) erfolgreich durchgeführt werden konnte, verbreitete seinen Ruhm. Durch seine chirurgischen Verfahren wurde auch die gesamte konservative und apparative Korrektur derartiger Veränderungen erfolgreich umgestaltet, wobei in der Tat das ausgezeichnete freundschaftliche Verhältnis zwischen dem in Berlin wirkenden DIEFFENBACH und dem in Hannover, Erlangen, München und Kiel tätigen STROMEVER einen lebhaften Austausch ihrer verschiedenen Operationsverfahren veranlaßte. ln diesem Zusammenhang darf ich aber vielleicht erwähnen, daß der auch hier in Düsseldorf zum Chirurgen ausgebildete FABRY VON HILDEN (1560-1634), ein genialer Chirurg der Renaissance, bereits schon Klumpfußapparate konstruiert hatte, die wesentliche Verbesserungen gegenüber den älteren, seit der Antike verwendeten Modellen aufwiesen. DIEFFENBACH hat mit Hilfe dieser neuen subkutanen Tenotomien in drei Jahren etwa 400 gelungene Operationen durchgeführt, und er ließ durch seine Assistenten in Berlin und Umgebung regelrecht nach Patienten mit Klumpfüßen fahnden, um sie mit seinen Methoden zu behandeln.

Die gleiche Methode wandte er bei der Behandlung des angeborenen Schiefhalses an, wobei offensichtlich die Erfolge noch besser als beim Klumpfuß waren. Erwähnen sollte man auch, daß sowohl STROMEVER als auch DIEFFENBACH ihre Methode der Tenotomie auch bei den zahlreichen, von beiden entwickelten Schieloperationen erfolgreich erprobten, und es ist daran zu erinnern, daß DIEFFENBACH selbst über 1200 derartige Augenoperationen vorgenommen hat. Daß er 1831 erstmals die Keratoplastik ausführte, ist ein weiterer Hinweis auf seine geradezu enzyklopädische Tätigkeit.

Neben der französischen Peregrinatio academica sollte aber auch die 1840, also in der Blüte seiner Jahre, angetretene Studienreise nach Wien kurz erwähnt werden, wo DIEFFENBACH zahlreiche Operationen in seinem Quartier, in der Wohnung der Patienten oder auch in bestimmten Hospitälern vornahm. Freilich, der Preuße DIEFFENBACH traf in Wien auch auf gewisse Ressentiments, die ihm eigenartigerweise in Frankreich nie begegneten, so daß sein Porträt auch heute noch in Paris zu sehen ist.

Wir würden jedoch seiner Persönlichkeit nicht gerecht, wenn wir nicht auch seinen engagierten Einsatz für das neue Narkosemittel, den Äther, erwähnten, dem er 1847, also nur ein Jahr nach der Einführung der Äthernarkose auf dem Kontinent, eine letzte Buchpublikation gewidmet hatte. Freilich, nach einer ersten Beinamputation durch den englischen Chirurgen ROBERT LISTON (1794-1847) am 20. Dezember 1846 und der ersten in Deutschland erfolgten Operation unter Äthernarkose durch den Erlanger Chirurgen JOHANN FERDINAND HEYFELDER (1798-1896) am 24. Januar 1947 stellte sich eine unglaubliche Äthereuphorie unter den Chirurgen ein, der DIEFFENBACH jedoch nicht verfiel:

„Die Chirurgen und chirurgischen Schriftsteller haben in neuester Zeit häufig den Äther über die Operation gestellt. Sie reden von glücklichen und
unglücklichen Versuchen, von glücklichen und unglücklichen Operationen, und damit meinen sie nur den Äther, nicht die eigentliche chirurgische Operation. Die Ätherisation ist für den Kranken die größte Erleichterung, dem Arzt immer eine Erschwerung.“

Als Fazit seines Lebenswerkes darf jedoch sein großes, nicht mehr selbst vollendetes Buch über „Die operative Chirurgie“ angesehen werden, dessen erster Band 1845 der bedeutende Chirurg seinem väterlichen Freunde und Paten seines Kindes ALEXANDER VON HUMBOLDT (1769-1859) widmete. Das hinterlassene Manuskript des zweiten Teils konnte nur noch posthum, bearbeitet von seinem Neffen JOHANN JULIUS BÜHRING (1815-1855) erscheinen. Der Herausgeber konnte nach DIEFFENBACHs Tode am 11. November 1847 dem zweiten Band nur folgende Einleitung voranstellen:

„Die deutsche Chirurgie, an deren Spitze er in der jüngst verflossenen Zeit unbestritten stand, hat in ihm ihren rastlosesten Förderer verloren, die lernende Jugend ihr anregendes Vorbild, die leidende Menschheit den Arzt! Aber daß er uns, was sein Geist Eigenthümliches geschaffen, hier als ein organisches Ganze hinterlassen hat, das läßt ihn unverändert in unserer Mitte fortleben.“

Und eben der ALEXANDER VON HUMBOLDT, dem DIEFFENBACH noch den ersten Teil seines Hauptwerkes gewidmet hatte, schrieb in einem Kondolenzbrief an DIEFFENBACHs Witwe:

„Der Tag, der ein einziges französisches Journal und zum ersten Mal die Schmerzensnachricht brachte und in einem Detail, das in der Sitzung des Instituts alle Hoffnungen der Zweifelnden niederschlug, gehört zu den trauervollsten meines vielbewegten Lebens.“

So wurde DIEFFENBACH in einem Familienmausoleum auf dem Friedhof der Dreifaltigkeits-Kirche in Berlin-Kreuzberg – Bergmannstr. 42-44 – begraben. Dieser Friedhof liegt heute in West­Berlin, und das Grab wird nach wie vor als Ehrengrab von der Stadt Berlin gepflegt, und ich meine, jeder Angehörige Ihrer Gesellschaft sollte, wenn er einmal die Möglichkeit hat, nach Berlin zu kommen, einen Besuch an dieser Stätte im Gedenken an den Begründer der modernen plastischen Chirurgie nicht unterlassen.

DIEFFENBACH starb tatsächlich am Ende einer Epoche. Denn die Entstehung der neuen Bakteriologie und in ihrem Gefolge die für die Chirurgie so einschneidenden Lehren der Antisepsis und Asepsis hat er ebensowenig erleben dürfen, wie wohl auch das Aufkommen der Zellularpathologie, denn das berühmte Werk von VIRCHOW erschien erst über 10 Jahre nach seinem Tode 1858, und ob er die nun fast ausschließlich auf mikroskopischen Beobachtungen fussenden Erkenntnisse VIRCHOWs anerkannt hätte, muß ungewiß bleiben. Denn, wie er in einem Brief an seinen Freund STROMEVER vom 13. Mai 1846 schrieb:

„Mit dem neuen Treiben in der Wissenschaft kann ich mich nicht befreunden. Es ist daher gekommen, daß alles das, was wir mit klaren Augen gesehen haben, nicht mehr gilt und heißt… Das singen die Leute, die nur durch das Mikroskop gucken. Mikroskop – Kaleidoskop.“

Es gibt sicher kein gültigeres Zeichen der allgemeinen Hochachtung, der sich DIEFFENBACH bei seinen Zeitgenossen erfreut, als die Widmung seines Freundes STROMEVER in dessen „Handbuch der Chirurgie“ von 1844: „Dem edlen Menschenfreunde und genialen Künstler J. F. Dieffenbach als Zeichen seiner unwandelbaren Freundschaft und Verehrung gewidmet vom Verfasser.“

Quelle: Mitteilungen VDPC, 1. Jahrgang, September 1994