1997 | Dieffenbach-Medaille

Dieffenbach-Medaille Dr. Paul Tessier

Die Dieffenbach-Medaille 1996 wurde Dr. Paul Tessier (im Foto Mitte) auf der VDPC-Jahrestagung in Würzburg im September 1997 von VDPC-Präsident Prof. Dr. Rolf Rüdiger Olbrisch (rechts) überreicht. Die Laudatio hielt Prof. Wolfgang Mühlbauer (links).

LAUDATIO auf den Dieffenbach-Preisträger 1997 Dr. Paul Tessier – Paris

29. Jahrestagung der Vereinigung der
Deutschen Plastischen Chirurgen
24. bis 27.09.97- Würzburg

durch Prof. Dr. Wolfgang Mühlbauer- München

Honorable Docteur Tessier’cher Paul

Au nom de I’Association des Chirurgiens Plastiques Allemands j’ai l’honneur de vous accueillir comme hôte d honneur (parmis nous) et DIEFFENBACH – Laureat 1997.
Jusque à ce jour je suis heureux d’avoir appris chez vous, il y a vingt ans, les principes fondamentaux de Ia chirurgie craniofaciale.

Pendant tous les ans j’ai apprécié particulièrement votre respect et sympathie, dont vous avez toujours temoigné envers moi.
A partir de maintenant je vais continuer mon appreciation de votre personne et votre oeuvre en allemand.

L’interprète charmante a votre côté va traduire mon éloge.

Beruflicher Werdegang

Paul Tessier wurde am 01.08.1917 (80) in Heric im Departement Loire Atlantic in Westfrankreich geboren.

1936 Abitur am College St. Louis in St. Nazaire,

1936-39 Medizinstudium an der Universität Nantes,

1939-41 Militärdienst; dabei geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Wie er mir erzählte, hat ihn das deutsche Militär anständig behandelt. Trotz einer Impfung erkrankte er lebensbedrohlich an Typhus. Die Militärärzte standen vor einem Rätsel. Kurz vor dem Hinscheiden stellte ein ehemaliger Professor von ihm die Diagnose und leitete die Genesung ein. Er wurde aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und konnte in der Folge sein Medizinstudium als Interne an den Krankenhäusern der Universität Nantes fortsetzen.

1943 wurde das Krankenhaus, an dem er tätig war, von britischen und amerikanischen Bombergeschwadern schwer getroffen. Sein Arbeitsbereich – die Nothilfe mit seinem Bereitschaftszimmer wurde dem Erdboden gleichgemacht. Zu seinem Glück hatte er an diesem Tage den Dienst getauscht, um mit Freunden einen Radausflug in die Umgebung zu machen. Vom Picknickplatz aus mußten sie den völlig überraschenden Bomberangriff mit ansehen. Durch schicksalhafte Umstände ist er ein zweites Mal dem Tode entronnen.

Gegen Kriegsende geriet er als Unbeteiligter in einen Schußwechsel zwischen Kräften der französischen Resistance und deutschem Militär, den er auch heil überstand.

Nach diesem Ausflug in ein unerfreuliches Kapitel der deutsch/französischen Geschichte zurück zur Medizin.

Im November 1943 erwarb er den Doktorgrad an der Fakultät für Medizin in Paris.

Spezialisierung – Weiterbildung zum Facharzt

Weiterbildung in Paris

Im Rahmen seiner speziellen Weiterbildung arbeitete er zwischen 1944 und 1946 als Assistent an den Zentren für MKG und HNO Chirurgie der Militärregion Paris.

Daran schloß sich bis 1950 die Weiterbildung in der Kinderorthopädie und der Plastischen Chirurgie am Hôpital St. Joseph in Paris an, wobei er seinem Chef der Kinderorthopädie Dr. Huc besonders viel verdankte.

Weiterbildung im Ausland

1946-50 setzte er 6 mal für jeweils 6 bis 8 Wochen nach England über zur zusätzlichen Weiterbildung in der Plastischen Chirurgie bei den damaligen Koryphäen Gillies, Mc lndoe, Mowlem und Barron in East Grinstead bei London.
1951 verbrachte er einen 5monatigen Studienaufenthalt an Zentren der Plastischen Chirurgie in den USA wie New York, San Francisco, Los Angeles und St. Louis.

Chefarzt 1951-84: (> 30 a)

Anschließend wurde er zum Chefarzt der Abteilung für Plastische Chirurgie, Handchirurgie und Brandverletztenzentrum am Krankenhaus Foch in Suresnes bei Paris berufen. Ich weiß, daß er sich zu dieser Zeit besonders um die Behandlung der Brandverletzten bemühte.
Wegen seines Interesses an der ophthalmologischen Chirurgie wurde er zusätzlich als ständiger Konsiliarius in die Augenkliniken zu Nantes und Lille berufen.
Nach seinem Abschied aus dem Hôpital Foch 1984 wirkte er noch bis 1990 weiter in der Privatpraxis und der Klinik Belvedere in Neuilly bei Paris.

Publikationen

Dr. Tessier hat über 70 wissenschaftliche Abhandlungen, Bücher und Buchbeiträge verfaßt zumeist als Einzel- oder Erstautor. Die Thematik reicht von der Behandlung Brandverletzter über die rekonstruktive Chirurgie nach Trauma im Gesicht, der Nase, der Lider und der Orbita, der ästhetischen Chirurgie und zahlenmäßig überwiegend natürlich zur kraniofazialen Chirurgie schwerer angeborener Fehlbildungen.

Weiterbildungsseminare in kraniofazialer Chirurgie

Zwischen 1963 und 1993 – also über 3 Jahrzehnte hinweg – veranstaltete Dr. Tessier spezielle Weiterbildungsseminare in kraniofazialer Chirurgie von 1- bis 4wöchiger Dauer, zunächst im eigenen Krankenhaus Foch, dann im jährlichen Rhythmus an vielen Orten in Europa und den USA. Die Entwicklung und bereitwillige Weitergabe der kraniofazialen Chirurgie haben Tessier internationale Anerkennung und Auszeichnungen gebracht.

Internationale Auszeichnungen

Zwischen 1970 und 1993 wurde Dr. Tessier mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft (14 mal).

Wie der Ehrendoktorwürde der Universität Lund in Schweden, Honorary President of the European Association of Maxilla Facial Surgeons, Honorary Fellow of the American College of Surgeons, The American Society of Plastic and Reconstructive Surgeons, The Royal College of Surgeons of England, The Royal Academy of Medicine of England, The Royal College of Surgeons of Edinburgh, Honorary Award of the American Association of Plastic Surgeons usw. um nur die wichtigsten zu nennen.

Mitgliedschatten in wissenschaftlichen Gesellschaften

Dr. Tessier ist Mitglied in 13 wissenschaftlichen Gesellschaften.
Gründungsmitglied der Sociéte Francaise de Chirurgie Plastique et Reconstructive (1954), deren Präsident er 1974 war.
1973 wurde er Gründungsmitglied der European Association of Maxillofacial Surgeons, deren Gründungspräsident er bis 1975 war.
1983 wurde er Gründungsmitglied der International Society of Craniofacial Surgery mit Präsidentschaft bis 1987.

Paul Tessier’s Persönlicher Beitrag zur Entwicklung des Spezialgebietes kraniofaziale Chirurgie
Wie kam Dr. Tessier zur kraniofazialen Chirurgie? Diese Bezeichnung gab es vor ihm noch nicht.
1957 wurde ihm ein 20 jähriger Mann mit ausgeprägter angeborener Fehlbildung des Gesichts vorgestellt, die er zunächst nicht diagnostizieren konnte. Wie er bald herausfand, handelte es sich um einen Morbus Crouzon.
Vor ihm hatten nur Gillies und Eduard Schmidt in Stuttgart Versuche einer operativen Korrektur dieser schweren Fehlbildung unternommen.
Tessier fand das Vorgehen von Gillies für seinen Fall nicht ausreichend. Er versuchte geeignetere Operationsmethoden an der Leiche zu entwickeln mit radikaler Ablösung und Vorschub des gesamten Gesichtsskelettes gemäß den Le Fort Frakturlinien, um die grotesken Fehlbildungen radikal zu korrigieren.
Die erste Operation gelang, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, da er nur an „normalen Leichenköpfen“ üben konnte.
In der Folge operierte er mit derselben Methode Apert Syndrome und sekundäre LKG Deformitäten.

1960 also kurze Zeit später, wurde ihm ein Patient mit Hyperthelorismus vorgestellt. Für dieses Problem entwickelte er seine bahnbrechende Methode des gleichzeitigen intra- und extra­ kraniel/en Zugangs zur sicheren Zusammenführung der auseinanderstehenden Augenhöhlen und führte erstmals diesen Eingriff zusammen mit seinem zögernden Neurochirurgen Guiot durch.

1967 also nach einer mehrjährigen Nachbeobachtungszeit trat er erstmals an die Öffentlichkeit und stellte diese Fälle beim Kongreß der französischen Gesellschaft für Plastische Chirurgie in Montpellier und im gleichen Jahr beim internationalen Kongreß der Plastischen Chirurgie in Rom vor.

Angespannt wartete er auf die Kommentare der Fachleute zu diesen gewagten Eingriffen. Zu seiner Überraschung waren sie überwiegend positiv. So lud er bekannte Fachleute wie Schuchart, Converse, Mustarde, Petit und andere noch im gleichen Jahr zum I. Symposium der kraniofazialen Chirurgie in seine Abteilung im Krankenhaus Foch ein. Zur kritischen Beurteilung stellte er alle bisher operierten Fälle vor und operierte 2 Patienten mit Crouzon und 2 mit Hyperthelorismus vor.

Die Kollegen waren begeistert und hielten die radikalen Eingriffe angesichts des grotesken Ausmaßes der Fehlbildungen und der bisherigen Unbehandelbarkeit für vertretbar trotz der hohen Risiken.

Das neue Spezialgebiet kraniofaziale Chirurgie war geboren, getauft und abgesegnet.

Das Hôpital Foch wurde von nun ab zur Pilgerstätte und die kraniofaziale Chirurgie breitete sich rasch über den Globus aus.
Paul Tessier hat nicht nur die Fundamente gelegt, sondern über drei Jahrzehnte hinweg bis vor kurzem die Weiterentwicklung maßgeblich vorangetrieben durch neue Ideen und Verfeinerungen.

Neue Klassifikation der Gesichts- und Schädelspalten
Als Folge der intensiven Beschäftigung mit kraniofazialen Fehlbildungen versuchte Tessier Ordnung in die verwirrende Vielfalt und Nomenklatur zu bringen und schlug unter anderem eine einfache Klassifizierung der Gesichts- und Schädelspalten durch Numerierung von 0 bis 14 vor. Sie wurde zwischenzeitlich weitgehend übernommen.

Beiträge zur ästhetischen Chirurgie
Paul Tessier erweiterte auch maßgeblich die Möglichkeiten der modernen ästhetischen Chirurgie, indem er die Techniken der kraniofazialen Chirurgie angeborener Fehlbildungen auf die ästhetische Chirurgie übertrug. So versucht der kraniofaziale Chirurg ja nicht nur die funktionellen Störungen zu beseitigen bzw. zu korrigieren, wie Hirndruck, Visusbeeinträchtigung, Atem-Kau-und Sprachbehinderung, sondern Form und Aussehen des Gesichts und Schädels soweit zu normalisieren, daß die Betroffenen und die Mitmenschen einander besser akzeptieren. Die kraniofaziale Chirurgie angeborener Fehlbildungen hat damit auch eine wesentliche ästhetische Indikation. Tessier nennt dies „orthomorphe Chirurgie“.
Tessier erweiterte die ästhetische Chirurgie auf das Gesichts- und Schädelskelett, aber auch auf die Weichteile. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Einführung des subperiostalen „Mask Lifts“, zuvor schon des SMAS Liftings (1979) schon etwas früher als MITZ und auf einige Spezialitäten der Blepharoplastik mit Kantopexie.
Paul Tessier – die außergewöhnliche Persönlichkeit
Was hat Paul Tessier zu dieser außerordentlichen Persönlichkeit werden lassen ?
– Ein klarer analytischer Verstand.
– Die kreative Suche nach bisher unbekannten Lösungen.
– Sorgfältige Erarbeitung der Grundlagen in der Anatomie und im Labor. Wagemutige Übertragung der entwickelten Techniken in die Klinik.
– Ausgeprägte handwerkliche Geschicklichkeit und Präzision.
– Gewissenhafte Analyse der Ergebnisse. Geistige und körperliche Ausdauer.
– Und einiges mehr.
Die operativen Eingriffe dauerten anfangs 12 und mehr Stunden. Schwestern und Assistenten wurden regelmäßig ausgewechselt. Manch ein Zuschauer machte schlapp. Paul zog die Operation persönlich von Anfang bis zum Ende durch. ln den kurzen Pausen, wenn der Neurochirurg seinen Part übernahm, operierte Tessier schnell mal ein Facelift, eine Blepharoplastik oder eine Nase im OP nebenan. Nach einem mitternächtlichen Diner ging es am nächsten morgen um 7 Uhr weiter.
Diese Zähigkeit und Ausdauer mit der Suche nach prickelnder Herausforderung zeichnete ihn auch als Großwildjäger in Afrika aus. Alleine ohne Führer soll er öfter für Wochen im Busch verschollen gewesen sein.
Seinem großen Landsmann Jacques Cousteau folgte er als Taucher in die Unterwasserweit Unter dem Pseudonym „Harry Cover!“ – es stand für „harricots verts“ – soll er den Nervenkitzel als stock car-Autorennfahrer gesucht haben.

Ich selbst bin glücklich dankbar, daß ich schon 1978 von ihm die Grundprinzipien der kraniofazialen Chirurgie erlernen durfte und auf dieser Grundlage eine erfolgreiche Arbeitsgruppe München- lnnsbruck aufbauen konnte. Sie hat schon Hunderten von Patienten geholfen und in der Folge eine Reihe eigener Beiträge zur weiteren Ausgestaltung dieses Spezialgebietes leisten können.

Unser Verhältnis ist geprägt von Respekt und Sympathie.

Auszeichnung mit der Dieffenbach Medaille der VDPC

Mit Paul Tessier ehrt die VDPC eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Die Dieffenbach Medaille der Deutschen Plastischen Chirurgen ist eine würdige Auszeichnung für diesen europäischen Pionier der Plastischen Chirurgie.“

Quelle: Mitteilungen VDPC Nummer 7, 4. Jahrgang Dezember 1997