2004 | Dieffenbach-Medaille

Dieffenbach-Medaille Frau Prof. Dr. Ursula Schmidt-Tintemann

Die Dieffenbach-Medaille 2004 wurde Frau Prof. Dr. med. Ursula Schmidt-Tintemann auf der VDPC-Jahrestagung in Düsseldorf am 23. September 2004 überreicht. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Rolf Rüdiger Olbrisch.

Laudatio für Frau Prof. Dr. med. Ursula Schmidt-Tintemann
Rolf Rüdiger Olbrisch

,,Es ist mir keine saure Arbeit, sondern eine freudige Beschäftigung gewesen, und diesen Stempel wünschte ich ihm aufgedrückt zu haben.“ Dieser Satz stammt aus Dieffenbachs eigenem Vorwort zu seinem großen Lebenswerk, das er ,,Operative Chirurgie“ nannte und nach seinem Tod in zwei Bänden bei Brockhaus in Leipzig – 1845 im ersten Band und 1848 im zweiten Band – durch seinen Neffen Johann Böhring veröffentlichen ließ. Johann Friedrich Dieffenbach war am 1. Februar 1792 in Königsberg geboren worden, und starb 1847 mit nur 55 Jahren während einer Vorlesung in der Charité an einer foudroyanten Apoplexie. In seiner Ausbildungszeit zum Chirurgen hatte er sich Anregungen insbesondere in Frankreich geholt, bevor er in Berlin an der Charité 1840 Nachfolger von Karl Ferdinand von Graefe wurde. Sein Vorgänger war 1810 mit 23 Jahren als Professor für Chirurgie an die neu gegründete Berliner Universität berufen worden. Er entwickelte die ersten chirurgischen Techniken, die Zeis in Dresden 1833 mit ,,Plastischer Chirurgie“ umschrieb, die daran anschließend Dieffenbach mit unendlicher Phantasie in allen Zonen der Körperoberfläche so originell entwickelte, daß ihm zu fast allen Fehlbildungen, Fehlentwicklungen, Funktionsstörungen und Deformierungen Behandlungsschritte einfielen, die wir nach 160 Jahren immer noch als Basis unseres Faches betrachten und wiederum unsere Schüler lehren.

Mit Recht dürfen wir Dieffenbach als den Urvater der plastischen Chirurgie in Deutschland betrachten – ein Fach, das in unserem Lande über dunklen Tälern des Vergessens und des Versagens am plastisch-chirurgischen Himmel einzelne Sterne aufstrahlen ließ, deren Namen wir noch heute mit Ehrfurcht nennen. Allerdings müssen wir bekennen, daß es in unserem Land keine durchgängige plastisch-chirurgische Milchstraße gab, sondern nur einzeln aufleuchtende Eruptionen und dann wieder viel Dunkel. Lexer vor 100 Jahren und Joseph nach dem ersten Weltkrieg waren die letzten Fixsterne, bevor die selbstbestimmte Isolation unseres Landes zu einer Unterbrechung der fachlichen Entwicklung führte, die erst nach dem zweiten Weltkrieg und 40 Jahre später von einer mutigen Gruppe neuanfangswilliger, änderungsdrängender und festentschlossener Jungchirurgen beendet wurde – im Grunde Menschen wie Dieffenbach aus Königsberg. Dessen Loblied sang eben hier in Düsseldorf vor 15 Jahren der Medizinhistoriker unserer Heinrich-Heine-Universität, Professor Hans Schadewaldt, als wir ihn anläßlich der 19. Jahrestagung unserer VDPC gebeten hatten, das Grundsteinlied zu diesem damals von uns neu geschaffenen Ehrenpreis unserer Vereinigung zu singen. Hans Schadewaldt ahnte damals nicht, daß gänzlich unerwartet am Ende seines spannenden Vortrages ein junger amerikanischer plastischer Chirurg aus der ersten Reihe des Hörsaals auf- und ihm in die Arme springen sollte, dessen Name John Dieffenbach war. Er war als Nachfolger unseres legendären Urvaters gekommen und wollte ein Beispiel sein dafür, daß es mit diesem lebensvollen wunderschönen Sondergebiet der Chirurgie ungebrochen weiter gehen kann.

Beginn des Medizinstudiums in der Heimatstadt Königsberg, 1944 folgte der Wechsel nach Prag
Es formt sich ein plastisch-chirurgischer Kreis, wenn Sie erfahren, daß unsere diesjährige Preisträgerin ebenfalls aus Königsberg stammt. Sie mußte wie Dieffenbach mit chirurgisch und jugendlich unbändigem Willen etwas Neues aufbauen, was skeptisch beäugt und als überflüssig verdrängt, nur von einem starken Mentor gestützt in Geduld geschaffen und etabliert werden konnte. So wie Graefe in Berlin der Mentor für Dieffenbach war, so war es Georg Maurer in München für Ursula Schmidt-Tintemann. Angefangen hatte Ursula Tintemann ihr Medizinstudium in der Heimatstadt in Königsberg. Von dort ging sie 1944 zur Fortsetzung des Studiums nach Prag. Dort wurde sie nach dem Physikum als Lazarettschwester zwangsverpflichtet, und die Russen nahmen sie 1945 als Wehrmachtsangehörige in Kriegsgefangenschaft. Es gelang ihr mit einigen Leidensgenossinnen zu fliehen und sich in nächtlichen Märschen nach Pilsen zu den Amerikanern durchzuschlagen. Dort gab ihr ein deutscher Militärarzt im Verwundeten-Lazarett seine Heimatadresse in Haar bei München. Mit dieser Adresse in der Tasche kam Ursula Tintemann als 21jährige Medizinstudentin im Mai 1946 in einem Güterwaggon in München an und verbrachte, wie viele Andere, die ersten Nächte in den Trümmern des zerbombten Hauptbahnhofs. Das Medizinstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität durfte sie erst wieder aufnehmen, nachdem sie als Trümmerfrau Schutt geschaufelt und den Trümmerschein erworben hatte. Verheiratet und als Mutter einer Tochter macht Ursula Schmidt-Tintemann das Staatsexamen, und es gelingt ihr, als Pflichtassistentin in die Chirurgie zu Professor Georg Maurer ins Perlacher Krankenhaus zu kommen. Sie begeisterte sich rasch. ,,Die Chirurgie hatte mich gepackt“ sagte sie von einem Fach, welches zumindest damals ungewöhnlich war für eine Frau. Aber sie erhielt wunderbare und zuverlässige Unterstützung durch ihren Mann und insbesondere den Sohn, der sie immer wieder anspornte, wenn sie meinte, nicht weiter zu können. Ein Verkehrsunfall nahm ihr beide Männer.

Ursula Schmidt-Tintemann hospitierte an den Universitätskliniken in Hamburg, in Düsseldorf und in Basel bei Koryphäen wie Rudolf Nissen, Ernst Derra und Ludwig Zukschwerdt. Hier fand sie ihre Vorbilder, mußte jedoch erkennen, daß in damaliger Zeit die Frau in der Chirurgie gegen die unendlich stark erscheinenden Halbgötter in weiß ,,keinen Fuß auf den Boden bekommen würde“, wie sie sagte, wenn sie sich nicht eine Spezialisierung suchte.

Anders als die angelsächsischen und skandinavischen Chirurgen pflegten die Deutschen und ihre Chirurgen die heroische Einstellung, daß Narben Ehrenzeichen seien
Dann auf einem Chirurgenkongreß in München hörte Ursula Schmidt-Tintemann einen Vortrag über plastische Chirurgie bei Gesichtslähmungen. Die vortragende Elisabeth Winkler aus Wien hatte in Schweden bei dem berühmten plastischen Chirurgen Ragnell Operationstechniken gelernt, die in Deutschland unbekannt waren. Die schrecklichen Kriegsverletzungen des ersten Weltkrieges hatten zwar in ganz Europa eine Blüte der ,,Wiederherstellungschirurgie“ provoziert, was wir voller Bewunderung insbesondere in den Werken von Joseph verfolgen können.

Anders aber als die angelsächsischen und skandinavischen Chirurgen pflegten die Deutschen und ihre Chirurgen die heroische Einstellung, daß Narben Ehrenzeichen seien. Das Empfinden für die ästhetisch-psychologische Dimension der plastischen Chirurgie war nicht vorhanden. Dazu gehört Herbert Höhlers Erlebnis auf einem der deutschen Chirurgenkongresse in den 60er Jahren: Nach seinem Vortrag über die Möglichkeiten des Brustwiederaufbaues nach Amputation wegen Krebses erlebte er Schmährufe und mußte hören: ,,Die Frau soll froh sein, daß sie lebt!“ Die plastisch-chirurgische Welt draußen erkannte sein Genie und ehrt ihn als den ersten, der sich Gedanken darüber machte, die Folgen der verstümmelnden Brust-Chirurgie zu korrigieren. Ursula Schmidt-Tintemann erkannte dieses Defizit im Denken und Handeln in der deutschen Chirurgie und trat eine große Bildungsreise an, die sie als Gastärztin zu Elisabeth Winkler nach Wien, zu MacIndo in East Grinstead, zu Aufricht, Pears, McDowell und Blocker in die USA führte. Georg Maurer zu Hause in München ließ sie gewähren und eine Abteilung aufbauen, die Ursula Schmidt-Tintemann mit Handzetteln im Klinikum bekannt machte, auf denen sie ihr Angebot notierte: Aufgelegene Druckgeschwüre, Krallenhände, abstehende Ohren und offene Beine zu behandeln und Brustrekonstruktionen und Hauttransplantationen nach Verbrennungen durchzuführen. Sie wußte, daß eben diese Problemfälle gern von den anderen Kollegen abgegeben wurden und betrachtete sich, so wie sie es ihren Schülern beizubringen pflegte, als Dienstleister an den – zumindest damals – unpopulären Grenzen der Chirurgie.

Mit der Etablierung des neuen Faches im eigenen Haus begann auch ihr Bemühen um die Etablierung des Faches im großen Gebiet der allumfassenden allgemeinen Chirurgie. Sie erlebte, daß sich in der nach dem Krieg gegründeten Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wieder- herstellungschirurgie die Ophthalmologen, die Urologen, die Orthopäden und Traumatologen – Ärzte aller schneidenden Fachgebiete versammelten, die jeweils nur ihre bestimmte Körperregion formend behandelten: Das lag nicht in der Idee der plastischen Chirurgie, die sich mit der gesamten Körperoberfläche mit ihren angeborenen Fehlbildungen, Fehlentwicklungen oder Krankheits-, Unfall- oder altersbedingten Veränderungen beschäftigt. 1968 trat Ursula Schmidt-Tintemann deswegen aus dieser Gesellschaft aus und gründete zusammen mit Buck-Gramcko aus Hamburg, Müller aus Bochum und Zellner aus Ludwigshafen die Vereinigung der Deutschen Plastischen Chirurgen. Mitglieder durften darin nur die Ärzte werden, die ausschließlich in der plastischen Chirurgie tätig waren.

1970 organisierte Ursula Schmidt-Tintemann die erste Jahrestagung der VDPC in München. Inzwischen hatte Ursula Schmidt-Tintemann als Präsidentin der Vereinigung in der Bundesärztekammer erfolgreich für die Anerkennung der plastischen Chirurgie als eigenes Teilgebiet der Chirurgie gekämpft, womit sie die Basis gelegt hatte für den endgültigen Durchbruch 15 Jahre später, als die sechsjährige Facharztausbildung verankert wurde im aufgewühlten Meer der großen Chirurgie. Ursula Schmidt-Tintemann darf stolz sein auf das, was sie mit qualitätsvoller Arbeit und überzeugenden Worten in 35 Jahren für uns alle geschaffen hat. Sie weiß wie wir, daß wir noch nicht am Ziel sind. In der letzten Woche fand sich im Deutschen Ärzteblatt die Annonce der Heinrich-Heine-Universität, daß ein C4-Professor für Virologie gesucht würde. Man stelle sich die Größe oder Winzigkeit dieser kleinen Biester vor, für die es einen C4-Professor braucht. Es ist diesem Kollegen zu gönnen. Aber andererseits gibt es an eben dieser selben Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf bis heute keine Klinik für dieses große Fach der plastischen Chirurgie, keine Abteilung, keinen Oberarzt, nicht einmal einen neuaufbauwilligen und durchsetzungsfähigen jungen Assistenten, wie vor 50 Jahren mit Ursula Schmidt-Tintemann bei Georg Maurer am Klinikum rechts der Isar in München.

Liebe hochverehrte Lehrerin! Schillers Idealismus ist immer auch der Ihre gewesen. Schiller sagte uns: Es kommt darauf an, etwas aus dem zu machen, wozu man gemacht wurde. Sie fühlten sich wie er von keiner gnädigen Natur getragen, wie Goethe das von sich sagen konnte. Sie wollten nicht ein ruhiges und gelassenes Weltvertrauen wie dieser besitzen, Sie waren der Meinung, alles selber machen zu müssen. In seinem schwachen Körper wurde Schiller zu einem Athleten des Willens, im Leben und im Werk. In der in den Augen der Chirurgen schwachen Figur einer schwachen Frau wurden Sie für uns eine Athletin des Willens zu einem neuen Weg in der Chirurgie, dem plastisch-chirurgischen Weg von Dieffenbach. Ihre immense Stärke als Lehrerin lag darin, uns, Ihren Schülern, große Freiheit zu lassen bei der Durchsetzung unserer eigenen Fantasien und Willen. So entstand in München am Klinikum rechts der Isar um Sie herum durchaus ein brodelnder Vulkan, den Sie über das ganze Land ausspeien ließen, um bunt verteilt neue plastisch-chirurgische Feuer zu setzen und um Dieffenbachs Ideen auf- und weiterleben zu lassen. Eines dieser Flämmchen zündelt in Wuppertal und eines in Köln. Ein anderes zündelt in Bochum und das nächste in Düsseldorf. Alle diese Feuer sind stolz, von Ihrer Olympischen Flamme in München abzustammen und alle Mitglieder der Vereinigung der Deutschen Plastischen Chirurgen sind stolz, in Ihnen zusammen mit Buck-Gramko, Müller und Zellner die Mutterflamme zu wissen.

 

Dieffenbach-Vorlesung am 23. September 2004 in Düsseldorf
Wie es anfing und wo es hinführt in der plastischen Chirurgie
Ursula Schmidt-Tintemann

Bevor ich Ihnen von der Renaissance der plastischen Chirurgie nach dem zweiten Weltkrieg aus meinem ganz subjektiven Blickwinkel erzähle, möchte ich Sie bitten, sich auszumalen, was Johann Friedrich Dieffenbach wohl sagen würde, wenn er sich heute in der plastischen Chirurgie umschauen könnte. Er wäre begeistert von den Verfahren, die Sie praktizieren und die Sie entwickelt oder weiterentwickelt haben. Er wäre glücklich über die neuen Möglichkeiten der Heilung und er wäre beeindruckt von den Fortschritten in unserem Fach – mit den sich daraus ergebenden operativen Möglichkeiten und psychologischen Einsichten. Letztere würden ihn allerdings kaum überraschen. Was immer wir heute darüber wissen, scheint er zumindest geahnt zu haben. Überraschen würde ihn aber, daß Patienten und Ärzte die Risiken einer Operation selbst dann auf sich nehmen, wenn der Eingriff gar nicht notwendig ist, sondern nur dem Wunsch eines Kunden entspricht, weil zum Beispiel dem jeweiligen Partner die Nase nicht paßt. Irgendwann würde ihm vielleicht auch das Operationsprogramm einiger – glücklicherweise weniger – plastischer Chirurgen merkwürdig vorkommen, denn, abgesehen von den Operationen, die ihm, Dieffenbach, überflüssig erschienen, würde er notwendige vermissen und er würde sich fragen, warum manche Eingriffe so oft – und nur dürftig indiziert – ausgeführt werden, und andere, wiewohl indiziert, so selten. Zumal doch jetzt die Voraussetzungen der Schmerzstillung, der Sterilität oder des Instrumentariums vorhanden wären, die er sich immer erträumt hatte.

„Schönheitschirurgie“ oder „kosmetische Chirurgie“ – mit Etikettenschwindel wird der kommerziellen Scharlatanerie Tür und Tor geöffnet

Mit dem Begriff „Schönheitschirurgie“ oder „kosmetische Chirurgie“ – gemeint ist wahrscheinlich viel eher „chirurgische Kosmetik“ – könnte er ebensowenig anfangen wie ich damit anfangen kann, seit diese Begriffe aus dem Service-Marketing im Schwang sind. Ich gebe zu, daß ich sogar Probleme mit der Bezeichnung „ästhetische Chirurgie“ habe. Im Gegensatz wozu? Im Gegensatz zu einer „unästhetischen“ Chirurgie? Dieffenbach konnte nicht ahnen, daß mit derartigem Etikettenschwindel eines Tages der kommerziellen Scharlatanerie Tür und Tor geöffnet werden würde. Ihm hätte der von Eduard Zeis 1838 in seinem Handbuch eingeführte Begriff „plastische Chirurgie“ vollauf genügt. Im Text von Zeis gibt es eine Passage, mit der er vor knapp 170 Jahren die Bezeichnung plastische Chirurgie zum ersten Mal bestimmt und gerechtfertigt hat, um „dem vorliegenden Gegenstand den Namen ‘plastische Chirurgie’ zu geben.“ Plastisch, natürlich im Sinne von formend. Dieffenbach sprach und schrieb von „Wiederherstellung“. Aber die Begriffsbestimmung von Zeis hat ihm eingeleuchtet und er führte sie ebenfalls ein. Wenn sich Dieffenbach in unseren Fachjournalen über die heutige plastische Chirurgie informieren würde, dann könnte er denken, daß sie sich vor allem in Standespolitik – vulgo: Vereinsmeierei – erschöpft. Am Abend schließlich würde er sich vor dem Fernsehgerät fragen, warum die plastische Chirurgie in dieser merkwürdigen Veranstaltung auf das Absaugen von Fett und auf Eingriffe an der weiblichen Brust reduziert bleibt, während von der Behandlung schwerer Verbrennungen, der Korrektur von Lippen-Kiefer-Gaumen- spalten oder der mikrochirurgischen Replantation total amputierter Gliedmaßen so gut wie nie die Rede ist. Er wüßte nicht, ob sich da Schauspieler als Ärzte ausgeben oder ob Ärzte sich als Schauspieler zur Verfügung stellen. Die ausgezeichnete Darstellung, die wir kürzlich von Herrn Steinau sehen durften, ist leider nur ein seltenes Beispiel für gelungene und notwendige Aufklärung in einer Wüste von Operations-Kitsch.

Bäuche beseitigt man nicht durch Diät – man läßt sie durch einen Chirurgen entsorgen und kauft sich damit die eher schädliche Illusion von Gesundheit

Aber, so wie ich Dieffenbach einschätze, würde er schnell durchschauen, daß es bei solchen Sendungen nicht um Aufklärung, geschweige denn um plastische Chirurgie geht, die er bekanntlich für die „höchste Blüte der ganzen Chirurgie“ hielt. Dennoch würde ihn die Unverfrorenheit überraschen, mit der einem Millionenpublikum als Aufklärung angedreht wird, was zur bloßen Unterhaltung gedacht ist – nämlich weibliche Brüste, pralle Kehrseiten und Operateure, die hinter ihren maskenartigen Mundtüchern und mit ihren bunten Kopfbedeckungen ein wenig an den Karneval von Venedig erinnern. (Gemeint ist nicht nur diese unsägliche Klinik am Bodensee.) Der Unterschied zwischen den Zuschauern eines Massenmediums und den sogenannten Schaulustigen am Straßenrand die nach einem schweren Unfall Blut sehen wollen, käme Dieffenbach nicht besonders groß vor. Er würde vermutlich recht schnell das eigentliche Anliegen erkennen, nämlich daß es, was die Körperform, den physischen Ausdruck oder die Wirkung auf andere angeht, weniger um eigene Anstrengung geht, etwas aus sich zu machen, etwa durch gesunde Ernährung oder ein ansprechendes Wesen, sondern darum, etwas aus sich machen zu lassen, und zwar von einem, den man dafür bezahlt. Bäuche beseitigt man nicht durch Diät; man läßt sie durch einen Chirurgen entsorgen und kauft sich damit die eher schädliche Illusion von Gesundheit, wie eine kürzlich im New England Journal of Medicine (17.6.2004) veröffentlichte Studie feststellt. Dieffenbach würde seinen Augen nicht trauen, wenn er sähe, daß der amerikanische Kollege Dr. Greenberg – Mitglied renommierter Fachgesellschaften – seine Patientinnen nach Brustaugmentationen zur Reklame auf einen Laufsteg schickt. Natürlich mit züchtigen BHs, damit man die Operationsergebnisse nicht allzu genau sieht; und daß der Operateur dabei sogar als Conferencier auftritt, um Kunden anzulocken. Er würde es kaum glauben, daß in China plastisch-chirurgische Kliniken aus dem Boden schießen wie Pilze und daß gerade jetzt dort ein Schönheitswettbewerb organisiert wird, an dem nur Konkurrenten teilnehmen dürfen, die ihre Schönheit plastisch-chirurgischen Eingriffen verdanken. In einem Interview mit der International Herald Tribune vom Juli 2004 schwärmt eine junge Chinesin von einer Gesellschaft, in der künftig alle gleich schön sein werden. Definiert wird diese schöne neue Gleichheit dann vermutlich nicht mehr von Bildhauern oder von Malern, sondern von Schönheitschirurgen – besungen wird sie nicht mehr von Dichtern, sondern von den Werbetextern chirurgischer Behandlungszentren. Ein Paradigmenwechsel kündigt sich an, der recht bald die unverwechselbaren Menschengesichter, die wir auf den Gemälden der alten Meister bewundern, durch verwechselbare ersetzen könnte.

Die US-Streitkräfte locken Freiwillige an – wie dem New Yorker (26.7.2004, S. 29) und Heft 3 der Plastischen Chirurgie zu entnehmen ist – mit kostenlosen Brustvergrößerungen, Nasenkorrekturen oder Fettabsaugungen für jeden Uniformträger und dessen Angehörige. Einwände, daß eine Armee kein Wellness-Verein auf Kosten der Steuerzahler sei, beantwortet der Chef der Plastischen Chirurgie im Brooks Army Medical Center, Dr. Bob Lyons: „Wenn am Ende ein glücklicher Soldat oder Matrose dabei herauskommt, dann ist das eine schöne Dreingabe. Aber deswegen machen wir es nicht. Wir machen es, um unsere Fertigkeit zu trainieren, Verwundeten mit rekonstruktiven Eingriffen zu helfen.“ Der plastische Chirurg Dr. Parson denunziert das als billige Ausrede: „Wenn die Brustvergrößerungen machen, dann üben sie Brustvergrößerungen und sonst gar nichts.“ Chirurgische Kosmetik und rekonstruktive Chirurgie seien zwei Paar Stiefel.

Mit der Beseitigung des Schmerzes und der Verhinderung der Wundinfektion wurden die Grundlagen für die heutige Chirurgie geschaffen

Wie erklärt sich nun die Blüte der plastischen Chirurgie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die durch Namen wie Dieffenbach, Ferdinand von Graefe und Zeis geprägt ist, und wie erklärt sich die darauf folgende Pause? Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stand den Chirurgen keine kontrollierbare Narkose zur Verfügung. Wie der ehemalige Würzburger Ordinarius Ernst Kern einmal gesagt hat (6. Juni 1993, Duisburg), mußten Helfer einen schreienden und um sich schlagenden Patienten festhalten, damit der Chirurg operieren konnte. Asepsis war unbekannt. Während der Zeit Billroths in Zürich starben 86 Prozent der Oberschenkelamputierten und 58 Prozent der Unterschenkelamputierten an Infektionen. Ernst Kern zitiert Nepomuk Nussbaum: „Man sah gesunde junge Leute mit groschengroßen frisch aussehenden Wunden in das Spital kommen und sterben … Ihre Wunden wurden anstatt kleiner, alle Tage größer, tiefer, grün und blau belegt, stinkend und waren gezackt an den Rändern, als ob ein wildes Tier daran genagt hätte.“ Es blieb den operierenden Ärzten damals also gar nichts anderes übrig, als sich, wenn irgend möglich, auf die Körperoberfläche zu beschränken. Das führte dazu, daß fast alle bedeutenden Operateure entweder auch oder vor allem „plastische Chirurgen“ waren. Die entscheidende Wende trat ein durch die Entwicklung der Narkose und der Antisepsis. Hatte sich Dieffenbach anfangs noch gegen die Anwendung von Äther ausgesprochen, weil jetzt auch Stümper Zugang zur Chirurgie finden würden, da ein präziser, sachkundiger und vor allem schneller Eingriff nun nicht mehr gefordert war, so korrigierte er sich bereits ein halbes Jahr später. In seiner eindruckvollen Schrift „Der Äther gegen den Schmerz“, sagt er 1847: „Der Schmerz, das höchste Bewußtsein unserer irdischen Existenz, diese deutlichste Empfindung von der Unvollkommenheit unseres Körpers hat sich beugen müssen … vor der Macht des Ätherdunstes.“ Und doch fügt Dieffenbach hinzu: „Der Kranke fragt jetzt weniger danach, wer ihn operiert, ob gut oder minder gut, er ist gleichsam abwesend … Der Betäubte weiß bei der Operation nichts von seinem Arzt, der Arzt nichts von seinem Kranken. Das Band der wechselseitigen Mitteilung ist zerrissen, selbst der ihn heilende milde Zuspruch wird nicht vernommen, die Frage nicht beantwortet … In beängstigender Einsamkeit vollendet der Arzt sein Werk.“ Mit der Beseitigung des Schmerzes und der Verhinderung der Wundinfektion wurden die Grundlagen für die heutige Chirurgie geschaffen. Die überzeugenden Erfolge der Bauch- und Thoraxchirurgie drängten die plastische Chirurgie in den Hintergrund.

Der von Lexer geprägte Begriff „Wiederherstellungschirurgie“ stiftete Verwirrung, denn im weitesten Sinn hatte fast jede Operation die Wiederherstellung des Patienten zum Ziel

Dann aber stellten die Verletzungen des Krieges 1870 bis 1871 und vor allem die des ersten Weltkriegs die Chirurgen vor völlig neue Aufgaben. Vor Aufgaben, die „aus der chirurgischen Arbeit der Kriegszeit geboren“ wurden, wie Erich Lexer sagte. Lexer, einer der bedeutendsten Vertreter der allgemeinen Chirurgie, sowohl in der Forschung als auch in der Therapie, hatte sich schon als junger Assistenzarzt mit Wundinfektionen, Aseptik, autologen, homologen und heterologen Knochenimplantaten beschäftigt. Er nannte das „Wiederherstellungschirurgie“ und schrieb darüber in der Einleitung zu seinem zweibändigen Werk: „Weil hiermit ein bedeutender Teil der Chirurgie begrenzt werden kann, dessen Eigenart bisher kaum bewußt geworden ist. Denn das Heilbestreben der Chirurgie erfüllt sich … auf verschiedene Weise: den verstümmelnden Operationsverfahren stehen die der Wiederherstellung gegenüber.“ Um den Stoff zu gliedern, wählte er eine Dreiteilung: Gewebslücken, angeboren oder erworben. Verunstaltungen, angeboren oder erworben. Fehlfunktionen, also Störungen der Bewegungsorgane. Lexer starb 1937. Der von ihm gewählte Begriff „Wiederherstellungschirurgie“ blieb erhalten und stiftete Verwirrung, denn im weitesten Sinn hatte fast jede Operation die Wiederherstellung des Patienten zum Ziel. Die Orthopädie, die Otolaryngologie oder die Kieferchirurgie übernahmen plastisch-chirurgische Eingriffe mit der schwer zu widerlegenden Begründung, es handle sich um „wiederherstellende“ Operationen. Der seit Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführte Begriff „plastische Chirurgie“ wurde verdrängt. In den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verlor die deutsche Chirurgie dann durch die politische Isolation ihre internationale Geltung. Der Sauerbruch-Schüler und spätere Lehrstuhlinhaber in Basel, Rudolf Nissen, schreibt dazu in seinen Erinnerungen: „Nazistische Autarkie, Arroganz und Selbstgefälligkeit haben die deutsche Chirurgie aus ihrer Spitzenstellung entfernt.“ In Deutschland sollte eine von allem Fremdländischen gesäuberte Medizin eingeführt werden. Wichtigster Förderer war bekanntlich der Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der eine Medizin auf der Basis der germanischen Kräuterheilkunde und der Homöopathie aufbauen wollte.

„You sell better, if you are a good looking person“ hat der Philosoph Theodor Adorno einmal über die plastische Chirurgie gesagt

Die Waffen des zweiten Weltkriegs verursachten noch grauenvollere Verletzungen als die des ersten Weltkriegs. Fachabteilungen, wie ich sie später in England für Brandopfer oder Gesichtsverletzte kennenlernte, wurden hierzulande dennoch nicht eingerichtet. Das aber war nicht nur eine Folge der politischen Isolation, sondern hatte auch mit dem Argwohn unserer Chirurgen gegenüber einer Indikationsstellung zu tun, die sich nicht allein auf das körperliche, sondern auch auf das psychische Leiden bezog. Während bei uns „die Wunden des Schmerzes zu Narben des Stolzes“ (Joseph Goebbels) werden sollten, war in den angelsächsischen Ländern die später von Edgerton so genannte „Funktion der äußeren Erscheinung“ längst erforscht, beschrieben und in ihrer Bedeutung erkannt. Damit wurden auch die Folgen ausgedehnter Kriegsverletzungen als eine Herausforderung verstanden, selbst wenn es „nur“ um die Beseitigung äußerlich sichtbarer Entstellungen ging. Es entstanden dort gut ausgestattete plastisch-chirurgische Behandlungszentren mit eigenen Etats für Klinik und Forschung und damit der Möglichkeit, neue Techniken zu entwickeln.

„You sell better, if you are a good looking person,“ hat der Philosoph Theodor Adorno einmal über die plastische Chirurgie gesagt. Die Zwänge der Gesellschaft sind, wie Sie alle wissen, übermächtig. Auf Kosten des Patienten Widerstand zu leisten, ist uns plastischen Chirurgen kaum erlaubt. Nicht nur bei der Arbeitssuche, in persönlichen Beziehungen, sondern sogar vor Gericht kommt ein ansehnlicher Mensch besser weg als ein entstellter. Auch die Justiz ist bekanntlich alles, nur nicht blind. Zu Tagliacozzis Zeiten, also Ende des 16. Jahrhunderts, war es noch ketzerischer Frevel gewesen, die sichtbaren Folgen des Zweikampfs mit der blanken Waffe – und damit die Folgen eines Gottesurteils – zu beseitigen. Auch die Folgen von venerischen Krankheiten, die zum Verlust der Nase führen konnten, waren eine Strafe, mit der der Allerhöchste die Betroffenen dem Spott ihrer Umwelt aussetzen wollte. Entstellungen waren mit frommer Geduld hinzunehmen. Alles andere war sündhafte Eitelkeit. Ferdinand von Graefe schrieb 1818 in seiner Vorrede zur Rhinoplastik: „Wir sehen Menschen an Krücken mitleiderregend einhergehen. Dieser Eindruck hindert sie aber nicht, heiter und froh im geselligen Kreis zu erscheinen, wo sich jeder für verpflichtet hält, ihnen umso zuvorkommendere Aufmerksamkeit zu bezeigen. Der Gesichtsverstümmelte hingegen, der mit theilweiser Maske das Fehlende unnatürlich deckt, erregt umso grausendere Vorstellungen, als die Einbildungskraft immer da am geschäftigsten wird, wo ihrem Treiben durch keine geoffenbarte Wahrheit ein begränzendes Ziel gesetzt ist …“ Schon lange vor ihm, nämlich im Jahr 1597, hatte der Bologneser Gaspare Tagliacozzi die Indikationsstellung der plastischen Chirurgie erweitert: „Nicht nur zur Freude des Auges, sondern um den Geist aufzurichten und der Seele des Betroffenen zu helfen“ operiere er entstellte Gesichter. Dafür wurde er nach seinem Tod in ungeweihter Erde verscharrt.

Paradoxe Situation: Nach dem zweiten Weltkrieg pilgerten deutsche Chirurgen in die Vereinigten Staaten, um plastische Chirurgie zu lernen

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es unter den wenigen Chirurgen, die sich dieser damals immer noch etwas verdächtigen Beschäftigung widmeten, so gut wie keine Kommunikation. Unsere wichtigsten Anregungen kamen aus den USA, aus dem United Kingdom und aus Skandinavien. Lernen konnte man diese Chirurgie aber nur, wenn man sich etwas Geld zusammensparte und zu denen reiste, die sie tagtäglich praktizierten. Nachdem ich 1956 den Facharzt für Chirurgie gemacht hatte, ging ich zu Gustave Aufricht nach New York, zu James B. Brown in St. Louis, Truman Blocker in Galveston und Jerome P. Webster in New York. Ihnen allen gilt mein Dank.

Der Chef der plastisch-chirurgischen Einheit im St. Francis Hospital in San Francisco, George W. Pierce, zeigte mir damals schon seine 16 Operationssäle, die um eine zentral gelegene Instrumenten- und Sterilisationseinheit herum angeordnet waren. Ein für unsere Verhältnisse gigantisches Organisationsmuster. Als er mir die Rekonstruktion einer Ohrmuschel, die wir gerade gesehen hatten, mit Bleistift und Papier erklärte, kam uns das Paradoxe der Situation zu Bewußtsein. Nach dem ersten Weltkrieg waren amerikanische Chirurgen nach Deutschland gepilgert, um Lexer in München bei Operationen zuzusehen. Jetzt pilgerten deutsche Chirurgen in die Vereinigten Staaten, um plastische Chirurgie zu lernen. Auf dem Heimflug sah ich beim Durchblättern der Zeitschrift Time, daß es neben den redaktionellen Rubriken für Innenpolitik, Literatur oder Wirtschaft auch eine für plastische Chirurgie gab. Der Begriff war offenbar jedem Leser geläufig. Niemand vermutete im amerikanischen Sprachraum dahinter eine Chirurgie mit Hilfe von Kunststoffen. In den USA gab es nicht nur neue Instrumente, Methoden und Organisationsmuster, sondern auch neues und besseres Verbandsmaterial, das man hier nicht kannte: Steri Strips, anti-allergische Pflaster, Fettgaze und neuartige Bandagen. Als ich der Firma Hartmann Muster zeigte und sie fragte, ob sie etwas Ähnliches machen könnten, erklärten sie sich gerne dazu bereit, sofern ich die Produktionskosten übernähme – was ich nicht konnte.

In den 50er Jahren standen weder die Methoden der Mikrochirurgie zur Verfügung noch die heutigen Naht- und Klebeverfahren

Dann kam die Arbeit in München am Haidhauser Vorstadtkrankenhaus, später Universitätsklinik der Technischen Universität München. Zusammen mit einem jungen Kollegen sammelten wir Fälle, von denen weder die Chirurgen noch die Internisten begeistert waren: Dekubitalgeschwüre von Langliegefällen, offene Beine, Röntgenulzera, Facialisparesen, Narbenkontrakturen, frische Verbrennungen, Weichteildefekte nach radikalen Tumoroperationen. Wir putzten bei den Chefs der diversen Abteilungen Klinken und hausierten mit einer Liste, auf der stand, was wir an Operationen anzubieten hatten: Verschiebelappenplastiken, Cross-leg-flaps, Rundstiellappen und freie Haut-, Sehnen- und Nerventransplantate. Damals standen uns weder die Methoden der Mikrochirurgie zur Verfügung noch die heutigen Naht- und Klebeverfahren und das Instrumentarium war beschränkt. Da es sich bei der üblichen konservativen Therapie vorwiegend um aussichtslose Fälle handelte, war nach einer gelungenen Operation das Erfolgserlebnis für die Patienten und für uns nur umso größer. Wir begannen zu ahnen, was der Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Universität Frankfurt, Alexander Mitscherlich, später bei unserer ersten Tagung 1970 in München formulieren sollte: „Soll (der Arzt), kann er, darf er überhaupt Entscheidungen von der Größenordung der Organtransplantation bis hin zur Gesichtsspannung allein treffen? Allein soll nun nicht heißen im Hinblick auf die technische Machbarkeit, darüber wird er allein entscheiden müssen. Allein soll heißen im Hinblick auf die alleinige Verantwortung, die kann, soll und darf er nicht allein übernehmen, geschweige denn für sich usurpieren. Vielmehr muß er den Patienten in die Verantwortung aufnehmen, und zwar in einem geschichtlich bisher beispiellosen Sinn … Wo dieses Gespräch in Gang kommt, bahnt sich eine definitiv humanere Medizin an … Welcher Arzt, der seine Patienten nicht nur als Anlässe für medizinisch-technische Erwägungen kennengelernt hat, sondern als ihm verwandte, konflikthafte Wesen, mag sich noch mit Plattheiten wie der Eitelskeitsdiagnose abgeben.“

Standesblättchen empörten sich darüber, daß eine Chirurgin aufgetreten war, die schamlos und in aller Öffentlichkeit eine Dupuytrensche Kontraktur operiert hatte

Das hieß, wir plastischen Chirurgen mußten uns der Neugierde und dem Interesse von Laien öffnen, die man bis dahin über das im Unklaren gelassen hatte, was im Operationssaal mit ihnen gemacht wurde. Dabei ging es zunächst gar nicht um plastische Chirurgie, sondern vor allem darum, potentielle Patienten mit der Realität ihres Körpers anzufreunden und sie die Intervention des Chirurgen nicht als Bedrohung, sondern als Hilfe erkennen zu lassen. Mittelalterliche Vorurteile gegen ärztliche Eingriffe im sichtbaren Bereich des Körpers waren längst überwunden, aber das sozialspsychologische Klima, in dem wir anfingen, war alles andere als aufgeklärt.

Die BBC hatte Anfang der Sechziger Jahre unter Mitwirkung bedeutender Vertreter der britischen Ärzteschaft unter dem etwas pompösen Titel „Your Life in Their Hands“ eine medizinische Sendereihe ins Programm genommen. Es war Aufklärung pur. Der Erfolg war groß. Die ARD wollte etwas Ähnliches machen. Die erste Sendung 1965 hatte den Titel „Die Hand und ihre Funktion“. Sie schilderte am Beispiel der chirurgischen Behandlung einer Dupuytrenschen Kontraktur, wie die menschliche Hand gebaut ist und wie sie funktioniert. Dann kam 1966 „Die Haut und ihre Verbrennung“. Die Sendung beschrieb am Beispiel einer Verbrennung die Haut als Organ des Körpers. Nach der ersten Ausstrahlung brach die Hölle los. Die Bundesärztekammer spuckte Gift und Galle. Eine medizinische Sendung – und man hatte sie nicht gefragt! Ein „Filmbeauftragter“ der Bundesärztekammer legte mit dem kaum nachvollziehbaren Argument offiziellen Protest ein, daß womöglich sogar „Mütter“ mit derartigen Sendungen konfrontiert werden könnten. Mütter waren offenbar eine Gattung Mensch, der man so etwas unter gar keinen Umständen zumuten durfte. Standesblättchen empörten sich darüber, daß eine Chirurgin aufgetreten war, die schamlos und in aller Öffentlichkeit eine Dupuytrensche Kontraktur operiert hatte. „Wer könnte noch einen anderen Menschen lieben, wenn man ihm die übelriechenden Säfte in dessen Inneren zeigt?“ Das fragte die Süddeutsche Zeitung in einem Leitartikel. Ignoranz in Bezug auf die Verdauung war offenbar die Voraussetzung menschlicher Zuneigung. Die Angriffe waren so diffamierend, daß die ARD nicht länger bereit war, deutsche Ärzte dem auszusetzen. Der Sender drehte daher in ausländischen Kliniken und holte sich Filmmaterial und medizinische Koryphäen aus dem Ausland. Jetzt wurde aus dem Sturm der Proteste ein Orkan. Ordinarien und Chefärzte intervenierten bei den Landesregierungen, den Landesärztekammern und bei den Aufsichtsgremien der Sender, um die eigene Mitwirkung durchzusetzen. Der Sender stellte sich taub und war nicht bereit, seine Programmentscheidungen den Interessen von Berufsverbänden oder Lobbyisten unterzuordnen. Eine hochkarätige Kommission mit dem Chirurgen Heinz Bürkle de la Camp, dem Soziologen und Philosophen Max Horkheimer und dem Frankfurter Ordinarius für Psychiatrie, Alexander Mitscherlich, hatte der ARD dringend nahegelegt, sich nicht irre machen zu lassen und den aufklärerischen Kurs zu halten. Das war das Klima, in dem plastische Chirurgie in Deutschland wieder begann.

Ausbildung und Qualität können in einer chirurgischen Disziplin nur gesichert werden, wenn sich deren Vertreter ausschließlich darauf konzentrieren

In der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie hatten die ersten Kongresse nach dem zweiten Weltkrieg in ihrem wissenschaftlichen Programm nur ganz wenige plastisch-chirurgische Beiträge. Und die kamen fast immer von ausländischen Kollegen. Das spiegelte die klinische Situation wider. Es waren namhafte HNO-Ärzte und Kieferchirurgen, die bereits während des Krieges wiederherstellende Chirurgie in ihrem Fachgebiet praktiziert hatten. Sie drängten jetzt mit dem Anspruch auf eine sogenannte regionale plastische Chirurgie in das Vakuum, das bei den Chirurgen entstanden war. Dabei beanspruchten sie die gesamte Körperoberfläche. In Hamburg zeigte mir der Ordinarius für Chirurgie Ulcera-cruris-Patienten, die vom Kieferchirurgen mit Hauttransplantaten versorgt worden waren. Bei einem wachsenden Interesse an wissenschaftlichem Austausch beschloß die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie unter der Präsidentschaft des Lexer-Schülers Bürkle de la Camp 1955 eine „Arbeitsgemeinschaft für plastische und Wiederherstellungschirurgie“. Aus ihr ging später 1962 die Deutsche Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungs-Chirurgie hervor. Im Überschwang der neuen Autonomie nahm sich nach den Worten von Bürkle de la Camp diese neue Gesellschaft nichts Geringeres vor, als alle Zweige der operativen Fachgebiete, wie Gynäkologie, Kiefer- und Gesichtschirurgie, HNO, Ophthalmologie, Orthopädie und Urologie wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Dadurch fühlten sich auch Ärzte angesprochen, die von der plastischen Chirurgie weit entfernt waren. Zumal es in der Satzung hieß, daß bloßes „Interesse an (diesem) Teilgebiet der Chirurgie“ für die Mitgliedschaft ausreiche. Die deutschen Chirurgen wollten noch immer nicht zur Kenntnis nehmen, was in skandinavischen und angelsächsischen Ländern schon lange nicht mehr zur Debatte stand, nämlich, daß Ausbildung und Qualität in einer chirurgischen Disziplin nur gesichert werden können, wenn sich deren Vertreter ausschließlich darauf konzentrieren.

Wir sollten 24 lange Jahre brauchen, bis wir den Kammern, Berufsverbänden und Fachgesellschaften eine selbstständige chirurgische Monospezialität abgerungen hatten

Die Kollegen, die ins Ausland gegangen waren, um sich dort plastische Chirurgie anzusehen, erlebten nach ihrer Rückkehr wie verdienstvolle Ordinarien der Kieferchirurgie (Schuchardt) oder der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (Wullstein) die deutsche plastische Chirurgie in internationalen Gremien vertraten und wie ein Orthopäde (Friedebold) als wissenschaftlicher Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland zum 5. Weltkongreß der internationalen Dachorganisation für plastische Chirurgie 1971 nach Melbourne reiste. Das Fell der Plastischen Chirurgie war an alle operierenden Fachgebiete verteilt worden.

Die Wenigen, die ausschließlich plastische Chirurgie betrieben, standen also vor einer schwierigen Situation. Einerseits wollten sie ihre Tätigkeit als ein Teilgebiet der Chirurgie betrachten, andererseits wollten sie aus dem Status des Gehilfen der Chirurgie heraus, um endlich zu einem Partner zu werden, dessen Erfahrung am Operationstisch Stimme hatte. Aber die Chirurgie versuchte immer noch unter Kuratel zu halten was nicht mehr zu halten war. Chirurgische Chefärzte hielten sich nach wie vor ihre plastischen Chirurgen wie mittelalterliche Fürsten sich ihre Hofnarren gehalten hatten. Wir alle waren ja der Meinung, daß unser Fach eng mit der Chirurgie verbunden bleiben sollte, weil das Prinzip der Indikationsstellung das gleiche ist, nämlich die Frage, ob die Risiken eines Eingriffs – von der Gefährdung des Patienten bis hin zum Mißlingen – durch den Nutzen für den Patienten aufgewogen wird. Es ist eine Ironie der Standespolitik, daß führende Chirurgen so taten, als würden sie mit der plastischen Chirurgie eine Schlange an ihrem Busen nähren. Ein namhafter deutscher Chirurg war mutig genug, das eigentliche Motiv dieser Beharrlichkeit beim Namen zu nennen. Er sprach „von der Fiktion des allumfassenden Fachgebiets Chirurgie“ und denunzierte diese Fiktion damit als den bloßen Versuch, die traditionelle Klinik-Hierarchie zu verteidigen. Das war die Gefährdung von innen. Hinzu kam eine von außen. Ärzte ohne jede chirurgische Ausbildung, Nichtärzte, Heilpraktiker, Gäste aus Brasilien oder sonstwoher absolvierten bei uns Eingriffe am laufenden Band. Ihre Operationen waren durch entsprechende Einwilligungserklärungen der Patienten abgesichert. Die zum Teil recht kümmerlichen Ergebnisse konnten wir dann übernehmen. Zum Schutz der Patienten und zum Schutz unseres Fachs beschlossen vier ausschließlich als plastische Chirurgen tätige Kollegen 1968 die Gründung einer neuen wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft: Dieter Buck-Gramcko in Hamburg, Fritz-Eduard Müller in Bochum, Rudolf Zellner in Ludwigshafen und ich in München. Wir hatten uns in den Kopf gesetzt, die plastische Chirurgie auch in der Bundesrepublik Deutschland als selbstständige chirurgische Monospezialität zu etablieren, die sie in anderen Ländern längst war. Wir sollten 24 lange Jahre brauchen, bis wir das den Kammern, Berufsverbänden und Fachgesellschaften in vielen harten Auseinandersetzungen abgerungen hatten. Erst 1992 haben wir das Ziel durch eine neue Weiterbildungsordnung erreicht. Wir hatten eine vierjährige Weiterbildung in Allgemeinchirurgie und eine mindestens drei- jährige Weiterbildung in einer dafür anerkannten Abteilung für Plastische Chirurgie zur Facharztanerkennung verlangt. Mitglied konnte nur werden, wer sich ausschließlich mit plastischen Operationen befaßte. Ein internationales Symposium für Verbrennungen in Bochum, von Herrn Müller organisiert und geleitet, war eine Gelegenheit, plastisch-chirurgisch tätige Kollegen anzusprechen und sie zu einer Gründungsversammlung einzuladen. Am 16. Oktober 1968 wurde mit elf Mitgliedern die Vereinigung der Deutschen Plastischen Chirurgen gegründet.

Die Kommunikation zwischen einem Massenmedium und den Zuschauern funktioniert anders als bei einem wissenschaftlichen Symposium oder im Hörsaal

Die erste Jahrestagung richtete ich 1970 in München aus. Dazu durfte ich immerhin schon 13 Mitglieder begrüßen. Hinzu kamen 120 ausländische Fachkollegen aus zehn verschiedenen Ländern, mit denen wir in regem Erfahrungsaustausch standen. Außerdem kamen unsere Nachbarn aus Wien und Innsbruck, wo schon damals eine Lehrkanzel für plastische Chirurgie bestand. Diese erste Generation der deutschen plastischen Chirurgen verschaffte sich mit ihren Mitarbeitern zunehmend An- erkennung und rechtfertigte mit ihren Erfolgen in der Verbrennungschirurgie, der Handchirurgie, der ästhetischen und der Mikrochirurgie ihren Anspruch auf Anerkennung als Monospezialität. Es dauerte nicht lange, bis starke zentrifugale Kräfte wirksam wurden. Jüngere Kollegen sahen einen berufspolitischen Handlungsbedarf, der darauf hinauslief, die plastische Chirurgie aufzuteilen. Ich will nicht unterstellen, daß dabei nur Profilierung und ökonomische Interessen eine Rolle gespielt haben, aber das Ziel scheint nicht einmal den Wortführern ganz klar gewesen zu sein. Ein Präsident, der gerade eine Parallelgliederung etabliert hatte, stellte in seinem Grußwort fest, daß jetzt „aber noch ein klarer Kurs für die politische Richtung“ gefunden werden müsse. Offenbar gab es diesen Kurs bis dahin nicht.

Wir haben nach dem Krieg den Karren der plastischen Chirurgie ein wenig angeschoben, der so gründlich stecken geblieben war. Sie, die Jüngeren, müssen jetzt dafür sorgen, daß er nicht vom Weg abkommt.

Ich habe mir bei diesem Bericht, Ihre Nachsicht voraussetzend, einige kritische Anmerkungen erlaubt. Michel Montaigne hat einmal gesagt: „Wer hat jemals einen Greis gesehen, der nicht die vergangene Zeit gelobt, die gegenwärtige hingegen getadelt hat.“ Auch wenn Montaigne damit sicher Recht hat, muß das nicht unbedingt heißen, daß Tadel schon allein deshalb unberechtigt ist, weil er von jemandem kommt, der schon ein paar Jahre dabei ist. Ich hoffe sehr, daß neben den sicher legitimen ökonomischen Interessen der plastischen Chirurgen auch die Frage akut bleibt, wann Ihre Arbeit zur bloßen Dienstleistung einer Wellness-Industrie verkommt. Nach der Frage also, wo genau die Grenze liegt, ab der plastische Chirurgie nicht mehr ärztliches Handeln ist. Diese Grenze werden Sie bestimmen müssen.

Schließlich will ich mich nicht drücken und noch ein paar Worte zur ersten, am 14. September 2004, im Fernsehen live übertragenen Brustaugmentation sagen. Das Ereignis wurde, wie von der Kommission für Jugendmedienschutz ausdrücklich für Unterhaltungssendungen vorgeschrieben, erst nach 23 Uhr ausgestrahlt. Relativ unproblematisch finde ich, daß damit auch Zahnpasta und Spaghetti angepriesen wurden. Das scheint mir eine Stilfrage zu sein. Unüberseh- und unüberhörbar war, daß die Kollegen im OP keine Mühe gescheut haben, ein Massenpublikum über unser Fach so gründlich wie nur möglich aufzuklären. Offensichtlich war, mit welcher Verantwortung sie Moderator und Redaktion eingewiesen haben. Leider funktioniert aber die Kommunikation zwischen einem Massenmedium und Zuschauermassen anders als die Kommunikation bei einem wissenschaftlichen Symposium oder in einem Hörsaal. Zwei Millionen Fernsehzuschauer, also Laien, haben an diesem Abend gelernt, daß das Wesen der plastischen Chirurgie vor allem Brustvergrößerungen mit Hilfe von Kunststoffprothesen besteht. Und daß somit der Ausdruck „Schönheitschirurgie“, anstelle von plastischer Chirurgie, den Nagel genau auf den Kopf trifft. Ich weiß nicht, wieviele Psychopathen unter knapp zwei Millionen Zuschauern mit einem atypisch hohen Anteil von Voyeuren sein könnten. Einer pro Zehntausend? Einer pro Fünftausend? Nur ein Psychiater könnte darüber Vermutungen anstellen, was es bei emotional instabilen Menschen anrichtet, wenn sie eine in ihren Augen wehrlose junge Frau sehen, an deren sekundären Geschlechtsmerkmalen mit scheinbarer Brutalität manipuliert wird. Aber ganz wohl ist mir – offengestanden – dabei nicht.

Quelle: „Plastische Chirurgie“, Heft 4, Dezember 2004